Das Gebrochene-Herz-Syndrom

Unsere Senioren-Kolumnistin pflegte ihren Mann. Hier erzählt sie, wie sie die Entscheidung traf, dass er im Altenheim besser aufgehoben ist – und warum diese Entscheidung viel mit Liebe zu tun hat.

Ich mag den Geruch von Krankenhäusern nicht. Wonach es genau riecht, ist schwierig zu sagen. Als ich im Bett lag, versuchte ich darüber nachzudenken. Nicht über das Ziehen in meiner Brust, nicht darüber, ob das jetzt mein Ende war. Bitte, Kopf, lenk mich ab. Also lieber auf die Frage konzentrieren, woraus sich dieser Geruch zusammensetzt. Ist das nicht ein Hauch kalter Braten? Vermischt mit Urin? Und das süßliche – ist das der Geruch von dem Putzmittel, mit dem sie hier den Boden wischen?

Ich kam nicht darauf. Also ging ich meine Erinnerungen noch einmal durch, um mich von der Infusion  und den Apparaten, die piepten, abzulenken.

Das Wetter war so schön gewesen, also wollte ich mit Ulli in den Garten fahren. Mein Mann redete den ganzen Morgen nicht mit mir, wie eigentlich immer in den vergangenen Monaten. Alzheimer hatte die letzten Züge seines Charakters aufgefressen. Für einen Tag im Frühling war es ungewöhnlich heiß. Ich kniete mich in ein Beet und begann, die Erde zu lockern und das Unkraut herauszureißen. Mir wurde immer wärmer. Ich streckte mich, um an eine Wurzel zu kommen, die weiter hinten im Beet steckte. Dann durchfuhr es mich. Ein Ziehen in meiner Brust. Ich bekam keine Luft mehr.

Meistgelesen diese Woche:

Meine Schwägerin sah mich und rief: »Du bist ja ganz grün im Gesicht.« Danach werden meine Erinnerungen zu einem Strudel. Ich weiß noch, dass ich erst nach Hause fuhr und dachte, es würde schon besser werden, und dann zwei Tage vor mich hin döste und nicht mehr richtig hochkam. Mein Hausarzt schickte mich mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus.

Ein Arzt kam ins Zimmer. Meine Diagnose stehe nun fest, sagte er, ich hätte das Gebrochene-Herz-Syndrom. Ich hatte fest mit der Diagnose Herzinfarkt gerechnet. Ich meine: Ich bin alt, ich spüre ein Ziehen in der Brust, die Apotheken Umschau hat mich gut auf diese Situation vorbereitet. Also schaute ich den Arzt ungläubig an: »Was bitte habe ich?«

Er erklärte mir, dass die Ergebnisse der Herzkatheder-Untersuchung bei mir nicht auf einen Herzinfarkt hinweisen. Sondern auf das Gebrochene-Herz-Syndrom. Er begann es mir zu erklären, später las ich noch viel dazu nach: Das Gebrochene-Herz-Syndrom hat tatsächlich fast die gleichen Symptome wie ein Herzinfarkt. Und es ist ein mindestens genauso deutlicher Warnschuss. Das Syndrom ist eine Reaktion auf zu viel Stress. Manche Patienten bekommen es nach dem Tod ihres Partners oder einer anderen schlimmen Nachricht. Andere, weil sie sich körperlich überanstrengen. Bei mir war es vermutlich eine Mischung aus beidem.

Die letzten Jahre waren so hart für mich gewesen. Ich habe an anderer Stelle schon beschrieben, wie ein Tag ablief, während ich meinen Mann pflegte. Meine Verwandten hatten alle auf mich eingeredet: Gib ihn doch in ein Altenheim! Professionelle Pflegekräfte wissen, was sie tun, wie sie ihn heben und waschen. Du machst dich körperlich nur kaputt! Lass dir helfen!

Ich sah ihren Punkt. Aber ich weiß auch, dass Ulli – wäre unser Schicksal vertauscht gewesen – sich genauso um mich gekümmert hätte. Dass er mich auch zu Hause hätte pflegen wollen. Das machte die Entscheidung so schwer. Ich hatte es ihm doch mal versprochen. Und irgendwie auch mir. In guten wie in schlechten Zeiten.

Nur dämmerte mir nach der deutlichen Ansprache des Arztes, dass »bis dass der Tod uns scheidet« auch auf meine Kappe gehen kann. Dass ich vor Ulli sterben könnte, weil mich seine Pflege so auslaugt, mir die letzte Energie aus dem Körper wringt.

Mein Schwiegersohn kam ins Zimmer. Er sagte viele kluge Dinge. Dass ich weiterhin für Ulli da sein könne. Dass ich ja viele Stunden im Heim bei ihm sein kann. Aber dass ich, wenn ich ihn weiter zu Hause pflege, bald gar nicht mehr für ihn da sein kann. Und da sei das Altenheim doch das deutlich kleinere Übel.

Zum ersten Mal gab ich es vor mir selbst zu: Ich schaffe es nicht mehr. Es war ein befreiender Gedanke.

Es gibt dieses Zitat aus der Bibel: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Die meisten lesen daraus, dass sie sich aufopfern sollen für andere. Aber der Spruch bedingt auch: Wer sich selbst nicht liebt, kann nicht für andere da sein.