Wer nach dem heute-journal am vergangen Sonntag nur kurz in der Küche Schokolade holen war, der/die dürfte bei der Rückkehr mit ziemlicher Sicherheit den Eindruck gehabt haben, beim Anschlussprogramm handle es sich um eine Wiederholung. Eine sehr alte Wiederholung.
Nach Nachrichten über Corona-Rekordzahlen und strengere Kontaktbeschränkungen stand da schließlich bestgelaunt ein Thomas Gottschalk und moderierte im gülden schimmernden Barock-Anzug eine Klassik-Preisverleihung. Vor Publikum.
Doch was wirkte wie ein Symbolbild fürs öffentlich-rechtliche Fernsehprogramm von 1987 bis 2011, war tatsächlich erst wenige Stunden zuvor aufgezeichnet worden. Zum dritten Mal in Folge moderierte Gottschalk die Verleihung des Opus Klassik, den Nachfolgepreis des Echo Klassik. Die Schenkelklopfer, sein breites Grinsen, die blonde Lockenpracht – alles war wie immer. Vor allem aber: das Outfit. Thomas Gottschalk steht für modische Exzentrik in der deutschen Medienlandschaft wie kein anderer. Sein Signature Look sind dabei auffällige Dreiteiler, bevorzugt glänzend, kariert oder aus Brokat. Zu seinen weiteren Lieblingskleidungsstücken zählen Fracks, Lederhosen, Schottenröcke oder jegliche Form von Trachtenelementen. Das Bemerkenswerte an diesem durchaus wilden Stil ist das Selbstbewusstsein, mit dem Gottschalk ihn seit eh und je auslebt. Wie er kürzlich in seinem »Podschalk« mit Moderatorin Nicola Müntefering (Achtung, Gottschalk hat im Podcast einen Redeanteil von circa 98,9 Prozent) erklärte, hatte der Show-Master niemals in seiner Karriere eine/n StylistIn, und wurde nie von DesignerInnen ausgestattet. Als Modekenner ist er regelmäßiger Kunde bei Vivienne Westwood oder Bergdorf Goodman, hält es für eine Selbstverständlichkeit zu wissen, wer Christian Louboutin ist, und bleibt selbst in den heutigen von Athleisure und #stayingathome-Kleidung geprägten Zeiten absoluter Hoodie-Verwehrer. In all seiner äußerlichen Unruhe ist Gottschalks Stil damit auch 2020 so stetig wie nur weniges in diesem Jahr. Und das vermittelt eine gewisse Wohligkeit.
»Gottschalks Anblick katapultiert uns in eine Welt, in der alles einfacher erscheint, oder sagen wir: überschaubarer«
Allein das Gold seines Sakkos versetzt einen am Sonntagabend in Nostalgie. Plötzlich ist man wieder Kind, sitzt im elterlichen Wohnzimmer und bettelt darum, anlässlich von »Wetten dass?« ausnahmsweise mal länger wachbleiben zu dürfen bzw. führt diese Diskussion aus Elternsicht (in Hinblick auf das zuverlässige zeitliche Überziehen der Sendung nicht gerade eine pädagogische Sternstunde). Gottschalks Anblick katapultiert uns in eine Welt, in der alles einfacher erschien, oder sagen wir: überschaubarer.
Täglich neue Corona-Rekorde, nicht endender Rassismus, die Klimakatastrophe, Angriffe auf die Meinungsfreiheit, eine wacklige US-Wahl – in Anbetracht der derzeitigen Weltlage mag manch eine(r) am liebsten mal kurz die Augen zumachen. Realitätsflucht hat Hochkonkunjunktur – gerade im Bewegtbildbereich. Über 17 Millionen schauten bisher die Paris-Hilton-Doku »This is Paris« auf Youtube (Flucht in die Vergangenheit), die klischeeüberladene, flache, aber nett anzuschauende Netflix-Serie »Emily in Paris« wird zwar von allen verleugnet, aber von jeder/m geguckt (Flucht in die Leichtigkeit).
Auch ein lustig gekleideter Thomas Gottschalk im Fernsehen mag einem diese fünf Minuten Eskapismus geben. Eine dem Jahr 2020 angemessene Wahl für die Moderation des Opus Klassik ist der weiße Mann trotzdem nicht. Der Echo wurde 2018 immerhin wegen Vorwürfen des Antisemitismus, der Frauenverachtung und Homophobie abgeschafft – für die Moderation des Nachfolgepreises hätte man doch durchaus mal jemand finden können, der oder die weniger der deutschen Mehrheitsbevölkerung angehört. Repräsentation hat auch in Krisenzeiten Priorität.
Wird getragen von: Siegfried und Roy, James Goldstein, BesucherInnen von Kostümbällen und Barockfesten
Wird getragen mit: Lockenwicklern, Haarspray, Selbstbewusstsein
Das Lied dazu: »70 Jahr, blondes Haar«