»Oliver Kahn hat durch mich durchgeschaut«

Der Fußball-Schiedsrichter Bernd Heynemann hat EM- und WM-Spiele gepfiffen. Besonders oft denkt er aber an eine Bundesligapartie zwischen Dortmund und Bayern zurück, in der Oliver Kahn seinen Gegenspieler biss. Ein Gespräch über den Druck, schnelle Entscheidungen treffen zu müssen – und den Nationalspieler Antonio Rüdiger.

Foto: Privat / Illustration: Mariapaola Bossini

SZ-Magazin: Bernd Heynemann, bis 2001 haben Sie als Schiedsrichter Hunderte Spiele in ganz Europa gepfiffen. Gibt es Partien, die Sie heute noch beschäftigen?
Bernd Heynemann: Als Schiri versucht man immer, seine Arbeit nicht mit nach Hause zu nehmen und ein Spiel direkt nach dem Ende für sich abzuhaken. Das hat bei mir auch meistens geklappt – außer bei einer Partie.

Bei welcher?
Dem Meisterschaftsduell zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern im April 1999. 80.000 Zuschauer im Westfalenstadion, das schwerste Spiel meiner Karriere. Für Bayern ging es um die Meisterschaft, für Dortmund um die Champions-League-Qualifikation. Die Stimmung war hoch brisant. Schon am Anfang flogen aus der Südtribüne Bananen auf das Tor von Oliver Kahn, später musste ich erst Sammy Kuffour und dann Stefan Reuter die Rote Karte zeigen.

Das Foto, auf dem Sie Kuffour vom Platz schicken, wurde später zu einem Klassiker der Bundesligageschichte.
Er konnte die Entscheidung kaum glauben. Als ich ihm die rote Karte zeigte, schaute er nur nach oben und nahm mich gar nicht wahr. Das war aber lange nicht alles!

Meistgelesen diese Woche:

Der FC Bayern holte an diesem Tag einen 0:2-Rückstand auf und Oliver Kahn hielt kurz vor Schluss einen Dortmunder Elfmeter – direkt vor der Südtribüne.
Kahn war schon immer extrem, in diesem Spiel wirkte er aber wie entfesselt. Bereits in der ersten Hälfte musste ich ihm die Gelbe Karte zeigen, dabei ging es nur um eine Kleinigkeit. Normalerweise versuchte ich den Spielern zu erklären, weshalb ich sie verwarnte. Bei ihm ging das nicht. Oliver Kahn hat durch mich durchgeschaut, war nicht ansprechbar.

In diesem Spiel sorgte der Torwart gleich für zwei Aufreger: Zuerst biss er seinen Gegenspieler und später …
… sprang er mit ausgestrecktem Bein in Richtung des Dortmunder Spielers Stéphane Chapuisat. Die Boulevardpresse hat sich sofort darauf gestürzt und zwei Begriffe geprägt: Knabber-Kahn und Kung-Fu-Kahn.

Es wurde auch diskutiert, warum Sie ihn überhaupt zu Ende spielen ließen.
Den Biss in die Wange von Heiko Herrlich konnte ich nicht sehen, damals gab es ja noch keinen Videobeweis. Kahn stand hinter dem Gegenspieler und ich dachte, er würde ihm etwas ins Ohr flüstern. Die viel umstrittenere Szene war aber sein Kung-Fu-Einsatz. Dabei lief die Situation anders ab, als sie später dargestellt wurde.

»Grundsätzlich macht der Videobeweis die Aufgabe der Unparteiischen aber nicht einfacher«

Inwiefern?
Es gab damals nur eine Kamera hinter dem Tor. Aus dieser Perspektive konnte man klar erkennen, dass zwischen Kahn und Chapuisat drei Meter lagen, er konnte ihn gar nicht erwischen. Auf den Bildern, die die Szene von der Seite zeigen und später berühmt wurden, sieht es aber aus, als würde Kahn ihm fast den Kopf abtreten.

Also war es richtig, keine zweite Verwarnung zu zeigen?
Auch ich war vom Kung-Fu-Tritt geschockt, aber das Spiel war zu diesem Zeitpunkt wegen einer Abseitsstellung unterbrochen. Gibt es eine Regel, nach der man nicht in die Luft treten darf? Ich kannte keine, also habe ich Kahn auf dem Feld gelassen – sonst wäre das Spiel völlig außer Kontrolle geraten.

Eine ähnliche Szene wie den Biss von Oliver Kahn gab es bei der Europameisterschaft im ersten Spiel der deutschen Mannschaft, Antonio Rüdiger biss Paul Pogba in den Rücken und durfte trotzdem weiterspielen.
Rüdiger hat in dieser Situation großes Glück gehabt, auch wenn der Schiedsrichter die Szene kaum live sehen konnte, nur in den Videobildern. Grundsätzlich macht der Videobeweis die Aufgabe der Unparteiischen meiner Meinung nach aber nicht einfacher: In der Zeitlupe wirken viele Bewegungen langsamer und unnatürlich. Deshalb ist es schwierig, die Situationen richtig zu bewerten. 

Wie fühlt es sich an, vor so vielen Menschen in kurzer Zeit folgenschwere Entscheidungen treffen zu müssen?
Ich habe stets versucht, die Gesamtsituation auszublenden. Ob es gerade um die Meisterschaft, die Champions League oder den DFB-Pokal ging – für mich spielte immer Rot gegen Gelb oder Blau gegen Grün. So schaffte ich es, mich von der hitzigen Stimmung nicht anstecken zu lassen. Und mir war es lieber, vor 80.000 als vor 80 Zuschauern zu pfeifen.

Wieso?
Im vollen Stadion hört man nur ein dumpfes, lautes Rauschen um sich herum. Bei Amateurspielen bekommt man jedes »Du Idiot!« von der Seitenlinie mit.

Haben Sie solche Anfeindungen getroffen?
Bei jeder Entscheidung gibt es Gewinner und Verlierer. Als Schiedsrichter bekommt man dafür selten Beifall, daran muss man sich gewöhnen. Trotzdem haben sich die Fans nie länger auf mich eingeschossen. Meine Privatnummer stand immer im Telefonbuch – in zwanzig Jahren hat niemand angerufen.

Hatten Sie während der Spiele Spaß oder überwog der Druck, keine Fehler zu machen?
Um die Anspannung auszublenden half es mir, auch gegenüber den Spielern locker zu bleiben. Wenn Mario Basler einen Fehlpass auf die rechte Seite gespielt hat, habe ich ihm gerne zugerufen: »Mensch Mario, links war doch alles frei!« Über manche Pässe habe ich mich schlicht als Fußballfan geärgert, ich hatte ja oft die beste Sicht auf dem Platz. Also: Es war auch Spaß dabei.

Fiel es Ihnen schwer, immer unparteiisch zu bleiben?
Mir ging es vor allem darum, den Spielern zu vermitteln, dass ich nicht nur als Richter auf dem Platz stehe. Ich dachte mir immer: Wenn beide Teams merken, dass auch ich etwas vom Fußball verstehe, mit jedem spreche und nicht ihr Feind bin, habe ich meine Aufgabe gut gemacht.

Sie haben von der DDR-Oberliga bis zur Weltmeisterschaft Spiele gepfiffen. Wie hat sich Ihre Arbeit verändert?
Auch in der DDR war das Niveau hoch, die Oberligaspiele bekamen aber weniger Aufmerksamkeit. Daran musste ich mich in der Bundesliga gewöhnen: mehr Medien, mehr Berichte und vor allem mehr Diskussionen. Auch wenn ich meine Arbeit immer gleich gemacht habe.

Nach ihrer Fußball-Karriere sind Sie in die Politik gegangen, von 2002 bis 2009 saßen Sie für die CDU im Deutschen Bundestag. Konnten Sie vom einen fürs andere lernen?
Ich kannte zumindest schon das Gefühl, dass man es nie allen recht machen kann. Aber zwischen dem Fußball und der Politik gibt einen entscheidenden Unterschied: Wenn ich früher in eine Richtung gepfiffen habe, ging es sofort weiter. Bei einer Entscheidung in der Politik dauert es, bis überhaupt etwas passiert. Dazwischen liegen unzählige Gremien und Debatten – daran musste ich mich erst gewöhnen.