»In einer Münchner Bäckereikette gibt es eine Art ›Happy Hour‹: Eine Stunde vor Ladenschluss kosten frisches Brot und Semmeln ein Viertel weniger, eine halbe Stunde davor sogar nur noch die Hälfte. Als Mutter dreier Kinder muss ich aufs Geld schauen und freue mich über das Angebot. Naturgemäß bilden sich aber lange Schlangen, und viele machen Großeinkauf; wer hinten steht, muss hoffen, dass noch etwas übrig bleibt. Sollte ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich zu viel kaufe und die nach mir Wartenden weniger Auswahl haben oder sogar leer ausgehen?« Renate P., München
Warum beschränken?, werden sich hier viele fragen. Schließlich haben Sie sich angestellt und müssen noch dazu eine Familie versorgen. Dennoch habe ich meine Bedenken: Jetzt bin ich dran! gefällt mir als Argument nicht sehr gut. Ich würde lieber Gerechtigkeitsüberlegungen heranziehen. Die einfachste ist die Gleichbehandlung: Es werden die Brote durchgezählt und die Wartenden, und dann wird aufgeteilt. Das führt zu mancherlei Problemen wie etwa dem, ob die Anwesenden oder die Vertretenen zählen, ob also, wer für eine Familie einkauft, mehr Brot erhalten soll. Am Ende landet man bei Lebensmittelmarken.
Deshalb das bewährte Prinzip: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.« Es stellt auch eine Gleichbehandlung dar, weil es ohne Ansehen der Person nach der Reihenfolge des Eintreffens geht. Doch beinhaltet es bei genauerer Betrachtung auch eine Leistungskomponente: Belohnt wird das rechtzeitige Erscheinen und Warten. Sowie man in der Schlange steht, geht es nur mehr danach, und die Gleichheit ist perdu. Vergessen sind auch alle anderen Aspekte wie etwa jener der Bedürftigkeit: Wer an der Reihe ist, darf auswählen. Man muss sich die Schwächen dieses Verteilungsmaßstabs vor Augen führen, wenn man die eigentliche Frage beantworten will: Wie weit darf man die Position, die man dank seiner erreicht hat, nutzen oder gar ausnutzen?
Meines Erachtens kommt man hier mit Aristoteles am weitesten: Ihm zufolge liegen die Tugenden und auch das Gerechte in der Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig, und das führt – auch wenn es hier fast ein wenig banal klingen mag – zur Lösung. Natürlich hat die Idee, einen günstigen Vorrat einzukaufen, per se nichts Anrüchiges. Dennoch: Wenn zehn Kunden anstehen und noch zehn Brote da sind, hielte ich es für maßlos, als Erste in der Reihe alle zehn aufzukaufen und einzufrieren. Die Rücksicht setzt hier engere Grenzen, die sich nicht allgemein festlegen lassen, sondern eine Abwägung erfordern, orientiert an der Anzahl der Wartenden, der Menge des verbleibenden Brotes und an Ihrem Bedarf. Dazu brauchen Sie keine Umfrage zu starten oder den Taschenrechner zu zücken, aber um einen groben Blick auf die Umstände und Ihre Mitmenschen kommen Sie nicht herum, wenn Sie die goldene aristotelische Mitte für die jeweilige Situation finden möchten.
Dr. Dr. Rainer Erliner empfiehlt zu diesem Thema folgende Lektüre:
Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1993, dort: Achtzehne Vorlesung: Gerechtigkeit, S. 364 ff.
Aristoteles, Nikomachische Ethik, Zweites Buch, insbesondere 1106b 37-1107a 8
Illustration: Marc Herold