Du, Herr Doktor

Darf man älteren Menschen das Du anbieten, auch wenn diese aus Respekt vor der eigenen Person wohl lieber beim Sie bleiben würden?

»Nachdem meine Frau und ich in ein Dorf gezogen sind, hat das ältere Ehepaar von gegenüber meiner Frau das Du angeboten. Bei mir haben sie dies nicht gemacht - vermutlich weil ich Arzt bin, und für sie immer der ›Herr Doktor‹. Ich will ihnen das Du auch nicht anbieten, denn ich bin deutlich jünger. Wird es also immer beim Sie bleiben?« Peter S., Erftstadt

Ihre Frage berührt drei interessante Punkte. Der erste ist das Duzen. Ich muss gestehen, dass ich ein großer Freund des Siezens bin. Und zwar als Regelfall des Umgangs. Das Duzen als Gegenstück oder Ausnahme davon gibt die Möglichkeit, einen anderen Grad an Vertrautheit herzustellen, in Richtung Freundschaft. Diese Möglichkeit der Differenzierung wird durch inflationäres Duzen zerstört. Gerade in Situationen wie der Nachbarschaft, wenn man sich zwar gut versteht, aber oft keine darüber hinausgehende Verbindung besteht, sehe ich keine große Notwendigkeit dafür, einander zu duzen.

Der zweite Punkt ist das Problem der Etikette. Sie beruht auf Regeln, und wie alles, was durch möglichst ausgefeilte Regeln bestimmt wird, entstehen Probleme, wenn ein spezieller Fall nicht ausdrücklich geregelt ist oder sich, wie hier, Regeln widersprechen. Sie wollen den Nachbarn das Du nicht anbieten, weil das den Älteren vorbehalten ist, die Nachbarn wollen es wohl nicht, weil es ihren gesellschaftlichen Vorstellungen widerspricht. Auch wenn die Idee eines »Höhergestellten« im täglichen Umgang nicht mehr zeitgemäß ist und beim Anbieten des Du, wie ich einschlägigen Veröffentlichungen entnehmen konnte, heute eher auf die Hierarchie im Berufsleben – Stichwort: Chef, wollen wir uns nicht duzen? – beschränkt wird.

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Damit kommen wir zum dritten Punkt: Hier scheint mir wieder einmal die Logik zu helfen. Da Ihre Nachbarn vermutlich wegen Ihres Berufes als Arzt davon absehen, Ihnen das Du anzubieten, wäre es unlogisch, wenn das zum Stillstand führt. Vielmehr müsste logischerweise das Recht dazu, wenn es an etwas zum Stillstand gekommen ist, was in Ihrer Person liegt, dann auf Sie übergegangen sein. Mit anderen Worten: Sie können das Du anbieten. Oder es beim nachbarschaftlichen Sie belassen.


Asfa-Wossen Asserate, Manieren, dtv München 2005
Dort insbesondere das Kapitel »Anreden und Titel (I)« auf S. 230 ff.

Ein ebenso amüsanter wie intelligentes Buch zu diesem Thema ist:
C. Bernd Sucher, Handy, Handkuss, Höflichkeit. Das Handbuch des guten Benehmens. Knaur Taschenbuch Verlag, München 2007
Dort der Eintrag »Duzen« auf S. 94f.

Sybil Gräfin Schönfeldt, 1x1 des guten Tons. Das neue Benimmbuch. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991

Elisabeth Bonneau, 300 Fragen zum guten Benehmen, Graefe und Unzer, München 2007

Das Kapitel »Das Duzen. Die negativen Seiten der Höflichkeit« in Rainer Erlinger, Höflichkeit. Vom Wert einer wertlosen Tugend, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, S. 82 – 108, S. 96ff.

Allgemein zum Duzen und Siezen und seiner Geschichte lesenswert:
Heinz Leonhard Kretzenbacher, Wulf Segebrecht, Vom Sie zum Du – mehr als eine neue Konvention? Luchterhand Literaturverlag, Hamburg und Zürich 1991.

Duzen, Siezen, Titulieren. Zur Anrede im Deutschen heute und gestern, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2. Auflage 1998