Auf Französisch heißt Hebamme »sage femme«, weise Frau, und genau das war sie, diese ältere Hebamme, mit der ich in meiner Ausbildung so viel zu tun hatte. Sie hatte 41 Jahre lang im selben Krankenhaus gearbeitet. Bis kurz vor ihrer Rente trug sie die altmodische Schwesterntracht mit den breiten weißen Trägern, obwohl um sie herum alle auf Jacke und Hose, die typische Krankenhauskleidung von heute, umgestiegen waren. Ich liebte vor allem ihre Geschichten von früher: Als sie anfing, hatten die meisten niedergelassenen Frauenärzte noch kein eigenes Ultraschallgerät, und auch später bekamen die Paare nur ein Schwarz-Weiß-Bild mit, das so grobkörnig war, dass viele es erstmal 360 Grad drehten, weil sie nicht wussten, was darauf zu sehen sein soll.
Ich weiß noch, dass diese ältere Hebamme dabei war, als gegen Ende meiner Ausbildung eine Frau bei uns war, die vom Baby in ihrem Bauch eines dieser hyperrealisitischen 3-D-Ultraschallbilder hatte erstellen lassen. Ich selbst hatte solche Aufnahmen zu diesem Zeitpunkt nur im Internet gesehen, die alte Hebamme noch nie. Fasziniert betrachteten wir das fotogleiche, nach-colorierte Bild des Kindes: Die Nasenlöcher, die Fingernägel, sogar ein kleines Grübchen waren zu erkennen.
Später begann sich in der Geburtshilfe das Wort »Babyfernsehen« für diese Bilder durchzusetzen. Viele sahen es eher kritisch, dass nun immer mehr Paare aus reiner Neugierde und ohne Indikation Ultraschallbilder anfertigen wollten. Ich war von den neuen Möglichkeiten der Technik erstmal fasziniert. Doch die ältere Hebamme sagte nach einer Weile, an das Baby auf dem Foto gerichtet: »Jetzt können wir alle deine geheime Welt sehen.«
In den 60ern und 70ern hatten Hebammen und Frauenärzte vor allem ihre Hände, um etwas über das Baby im Bauch zu erfahren. Sie ertasteten Größe, Lage und Fruchtwassergehalt und bestimmten mit dem Maßband das Wachstum von Bauch und Gebärmutter.
Ob eine Frau beispielsweise mit Zwillingen schwanger war, fand man heraus, indem man nach den sogenannten großen Kindsteilen getastet hat, also Kopf, Rumpf und Po. Gab's irgendein Teil doppelt oder dreifach: voilà. Dazu gehörte dann noch ein eindeutiger Nachweis von zwei verschiedenen Herztönen. Das war aber nicht so einfach, denn die meisten Kliniken hatten nur wenige Wehenschreiber, erst Recht keine Zwillingsgeräte. Also musste man das CTG zweimal hintereinander anlegen und mit dem Pinard-Hörrohr oder dem kleinen Fetal-Doppler am Bauch lauschen und versuchen, die Herztöne zuzuordnen.
Die alte Hebamme hatte uns damals auch erzählt, wie es war, als sie auf der Station das erste Ultraschallgerät bekamen, »so teuer wie ein Reihenhaus und so groß wie ein Kühlschrank.« Euphorisiert von den Möglichkeiten der Technik sei es gleich zu Beginn zu einem denkwürdigen Fehler gekommen: Ein Arzt wollte Zwillinge bei einer Frau erkannt haben. »Die ganze Schwangerschaft war fortan von dieser Annahme geprägt«, erzählte die Hebamme, »doch als die Frau schließlich unter Geburt ging, hat sich herausgestellt: Sie war von Anfang an mit nur einem Kind schwanger gewesen.«
Mir kam die Geschichte in den Sinn, als ich mich neulich mit meiner Kollegin V. traf, die ich noch aus der Ausbildung kenne. Wir hatten uns lange nicht gesehen und wollten eigentlich über alles anderes reden als über die Arbeit, doch schon kurz nach unserer Begrüßung platzte es aus V. heraus. »Du glaubst nicht, was letzte Woche bei uns passiert ist!«
Und dann erzählte sie: Eine Frau mit starken Wehen war angekündigt worden. Weil es hieß, sie sei mit Zwillingen schwanger, rief die junge Assistenzärztin noch bevor der Rettungswagen eintraf, den Oberarzt hinzu, der wiederum einen »speziellen Hintergrund« hatte. Gemeint ist, klar, keine adelige Herkunft, sondern eine zusätzliche Facharztvertiefung. Als die Frau, eine Irakerin, eintraf, wollten die Ärzte sofort per Ultraschall nachsehen, wie die Feten liegen, denn die Geburt stand unmittelbar bevor. Es sollten ihre Kinder sechs und sieben werden, sie hatte bereits fünf Mädchen.
»Moment, da ist nur eines«, hieß es plötzlich, erzählte V. »Der Ultraschall flitzte über den Bauch«, V. malte beim Erzählen wilde Gesten in die Luft. »Seitlich, hinten, vorne: Da war nichts.« Die Assistenzärztin habe kopfschüttelnd an sich gezweifelt, aber dafür sei keine Zeit gewesen. Denn die Geburt sei rasant verlaufen, ratzfatz sei das Kind da gewesen – ein Junge. Nach der Geburt hätten die Kollegen noch einmal das Ultraschallgerät auf den Bauch der Frau gehalten. »Ich will nicht sagen, man hat die arme Frau auf den Kopf gestellt«, erzählte meine Freundin, »aber in der Geschichte des Ultraschalls wurde ein Bauch wurde noch nie so gründlich untersucht. Da war kein zweites Kind.«
Ungläubig lasen sich die Ärzte den Befund des Frauenarztes durch. Der Frauenarzt hatte genauestens notiert, wie zum Zeitpunkt seiner Untersuchungen die Babys im Bauch gelegen hatten. »Fet A Junge, Schädellage, Fet B Mädchen Querlage« stand im Befund. Er hatte sogar ein jeweils unterschiedliches Gewicht angegeben.
So lustig es klingen mag, das »Veschwinden« des zweiten Babys war dramatisch: Die Eltern waren neun Monate davon ausgegangen, sie bekämen Zwillinge. Und die Ärzte dachten, sie hätten etwas (besser gesagt: jemanden) übersehen. Als die Plazenta kam, konnte man schließlich sehen, dass es einen zweiten Fetus gegeben haben muss, der die Frühschwangerschaft nicht überlebt hat. Der Frauenarzt hatte die Zwillingsschwangerschaft in den ersten Wochen zwar korrekt festgestellt, aber danach nie wieder in Frage gestellt. Er hatte stattdessen bei allen weiteren Untersuchungen das einzige Kind im Bauch doppelt geschallt.
Das Paar wirkte innerlich zerrissen: Einerseits waren die beiden überglücklich, dass ein Kind wohlauf war, andererseits geschockt, dass ein Kind verstorben war. Doch je näher die Entlassung der Frau kam, desto bedrückter wurden sie. Sie fürchteten sich, nach Hause zurückzukehren, erzählte V., fragten sich, was die Familie wohl sagen würde, wenn sie mit nur einem Kind kommen würden? Würde man ihnen unterstellen, sie hätten das andere Kind, das Mädchen, zurückgelassen?
Das Paar bekam psychologische Unterstützung, auch um den Trauerprozess um das nicht geborene Kind zu begleiten.
»Und was war mit dem Frauenarzt?«, fragte ich V., nach einer längeren Pause, in der wir einfach nur nachdenklich aus dem Fenster des Cafés geschaut haben. »Der hat gegenüber der jungen Assistenzärztin alles abgestritten. Er sei seit 30 Jahren Gynäkologe und lasse sich nicht von einer Anfängerin sagen, dass er Zwillinge nicht erkennen würde.«
»Wahnsinn. Klarer Fall von Fake Baby News«, sagte ich und V. nickte.