Kein Witz

In seiner Jugend hatte unser Autor für Bayern 1 nur Verachtung übrig. Der Radiosender war alles, was er nicht sein wollte: volkstümlich, spießig, langweilig. Zwanzig Jahre später findet er ihn super. Was ist passiert?

In meiner Jugend war ich ein Rebell. Es war kalt, meine Mutter legte mir eine lange Unterhose hin, ich zog sie nicht an. Mein Vater sagte: »Nur Verlierer brauchen Bier, um lustig zu sein.« Ich trank Tequila. Ich war mir sicher, dass ich nie Kontoauszüge in Ordner abheften oder Kniestrümpfe anziehen würde. Heute habe ich eine Lieblingsreinigung und eine Zahnzusatzversicherung. Ich bin geworden, wie ich nie sein wollte. Ich bin erwachsen geworden. Die letzte Hürde fiel vor ein paar Wochen.

Ich fuhr durch die Stadt, das Autoradio lief, Bayern 3, Antenne Bayern, irgend so was. Auf einmal spürte ich, wie ich von Kilometer zu Kilometer wütender, dann trauriger wurde. Erst nervte mich der Moderator mit seiner guten Laune – es war doch erst elf Uhr vormittags –, dann eine Band namens Revolverheld. Ich habe sie später gegoogelt, der Name muss ironisch gemeint sein. Ich drückte auf den Sendersuchknopf, Rauschen, Verkehrsfunk, Rauschen, eine Reportage über Beschneiungsanlagen, Rauschen und auf einmal – Glocken. Erst dachte ich, es käme von draußen, aber dann hörte ich genauer hin. Kein Zweifel, da läuteten Kirchenglocken. Erst nur zwei, eher hoch und hell, dann kamen tiefere Töne dazu, gemeinsam türmten sie sich zu einer dreiminütigen Erlösungssymphonie auf. Für einen Moment fühlte ich mich der Gleichförmigkeit des Lebens ent-hoben, ja geborgen. Dann erklärte mir ein Moderator, dass ich soeben die Glocken der Basilika St. Mauritius in Niederalteich in Niederbayern gehört hatte. Ich war bei der Rubrik »Zwölfuhrläuten« auf Bayern 1 gelandet.

Ich konnte es nicht fassen. In meiner Jugend war Bayern 1 der Feind gewesen. Schlimmer als Bayern 1 waren nur Franz Josef Strauß und Opas, die im Keller Nazi-Orden sammelten. Neugierig blieb ich dran, erst auf den folgenden Kilometern, dann die nächsten Tage. Ich lauschte Scarborough Fair von Simon & Garfunkel, True von Spandau Ballet, I Like Chopin von Gazebo und Moderatoren, die nicht daran scheiterten, witzig zu sein, weil sie es nicht versuchten. Von ihrem warmen Bairisch fühlte ich mich aufs Angenehmste begleitet, erinnert und unterhalten. Hatte sich Bayern 1 verändert? Oder ich mich? Oder beide? Inzwischen schalte ich auch gern mal abends ein, dann kommt nämlich Volksmusik. Nicht Hansi Hinterseer, sondern richtige Blaskapellen oder Zithermusik, die Leitzachtaler Buam oder die Gesangsgruppe Eberwein; die spielen mal einen Landler, mal einen Dreiviertler, ich lege mich ins heiße Fichtennadelbad und bin – ich kann es nicht anders sagen – glücklich.

Meistgelesen diese Woche:

Ich habe es Freunden erzählt. Einige glaubten es nicht. »Du willst doch nur provozieren«, sagten sie. Andere lachten mich aus und nannten mich einen Spießer. Also, ich finde Andreas Bourani viel spießiger als die Leitzachtaler Buam. Trotzdem bekam ich wieder Zweifel. War ich doch zu früh alt geworden? Am Ende ein Kleinbürger, rückwärtsgewandt und ängstlich? Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich dachte nach.

Inzwischen glaube ich, dass es zwei Erklärungen für meine neue Leidenschaft gibt. Erstens: die Musik. Bayern 1 spielt vor allem Oldies. Früher waren das Heintje und Karel Gott, heute sind es Stevie Wonder und Bananarama. Ich bin keine zwanzig mehr, die Musik erinnert mich an die Zeit, als ich ein Junge ohne Sorgen war. Logisch. Es gibt aber noch eine andere Erklärung.

Ich habe einige Bücher gelesen, philosophische Bücher. Deren These: Wir leben in der Diktatur der Positivität. Alles Dunkle soll hell, alles Gefährliche abgeschafft, alles Triebhafte reguliert, alles Melancholische heiter gemacht werden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts muss alles sympathisch und sonnig und gut gelaunt sein, jede Wohnung, jeder Moderator, jede Zeitschrift, am besten so bunt und lustig wie die Buchstaben von Google. Alle Menschen sollen sich wohl fühlen und nett zueinander sein. Keiner soll schimpfen, laut werden, deprimiert sein oder sich ausgegrenzt fühlen. Wir sind eine große Familie, die gegen niemanden was hat, und alles wird gut; I like – das ist die Gemütslage der Stunde. Neulich starb der Fußballtrainer Udo Lattek. Statt der Schweigeminute gab es eine Jubelminute. Ich bin sicher, da hatte die Diktatur der Positivität ihre Finger im Spiel. Seit ich von ihrer Existenz weiß, begegne ich ihr überall, beim Einkaufen, beim Fernsehen, in der Arbeit. Das Leben kommt mir vor wie eine viel zu gesunde Rhabarbersaft-Schorle, auf jeden Fall wie eine halbe Sache, weil irgendwie nur noch die eine, die positive Hälfte stattfinden darf.

Bayern 3 muss das Epizentrum der Positivität sein. Dort gibt es eigentlich nur zwei Katastrophen: Die eine ist der Montagmorgen (weil erst in fünf Tagen Wochenende ist), die andere der Sonntagabend (weil in wenigen Stunden Montagmorgen ist). Der Rest sind Gags, jede Menge gute Laune und Warten auf den Feierabend. Die Moderatoren lachen ständig – meistens über ihre eigenen Witze, die fast immer von schlecht gelaunten Chefs oder unaufgeräumten Teeküchen handeln. Ich höre zu und komme mir vor wie auf einer kilometerlangen Fanmeile, einem nicht enden wollenden Après-Ski, einer Parade der Gewöhnlichkeit. Die pfiffigen Moderatoren drängen mich in ein Leben, das ich weder habe noch haben möchte, sie ziehen mich hinein in eine große Lüge, ein heftiges Verdrängen, eine Lähmung.

Ich lasse mich gern belügen, aber nur, wenn ich die Lüge nicht bemerke. Es ist nicht die Wahrheit, die mich verzweifeln lässt, und nicht die Wirklichkeit, es ist die dilettantische Maskierung. Und meine Liebe zu Bayern 1 ist meine kleine Flucht vor dieser Lüge, der tägliche Check-in in meinen privaten Wellnessbereich. Wenn ich einschalte, lasse ich mich nieder am Stammtisch der Unverstellten; dann erscheint mir alles verlangsamt, gedimmt, gedämpft, als stünde ein Paravent zwischen mir und einer Welt, die gut gelaunt aus den Fugen gerät; dann kommt mir das Leben vor wie ein langer, ruhiger Fluss. Als würde man von Germanys next Topmodel zu einer Dokumentation über Elche in der Tundra oder Krippenfigurenschnitzer in Südtirol schalten. Das Durchschnittsalter der Bayern-1-Hörer liegt übrigens bei 58. Ich bin 39. Habe ich mich verändert? Oder Bayern 1? Ich bin unsicher.

 

Illustration: Sebastian Schwamm