Ich lernte Ahu in der sechsten Klasse kennen. Ihr Name bedeutet Gazelle, aber so richtig passt das gar nicht. Sie ist vielmehr ein Gepard, anmutig, schleichend, bereit zum Angriff. Die meisten anderen SchülerInnen waren damals noch damit beschäftigt, Pokémons im Klassenzimmer zu suchen, da belächelte Ahu in der ersten Reihe das Treiben mit einem Blick, der sagte: »Wie kindisch!«. Stolz, fast provozierend saß sie jede Stunde vor mir. Als wollte sie mir jederzeit Kontra geben können. Sie hatte damals gerade begonnen, Kopftuch zu tragen. Das machte sie zu etwas Besonderem inmitten ihrer vielen deutschen Freundinnen. Sie genoss es.
Als wir über Heimat sprachen, erzählte sie von der Straße, in der ihre Familie in der Türkei wohnte, wie sie dort spielen konnten. Von ihren vielen Cousinen und Freundinnen und was ihre Oma alles kocht, wenn sie sie in den Ferien besuchen fahren. Als sie über Köfte sprach, strahlten ihre Augen. Ihre Familiengeschichte kannte ich nur ansatzweise. Im Lehrerzimmer hieß es, ihre Eltern seien Erdogan-Anhänger. So genau fragt man da im Elterngespräch aber auch nicht nach. Ich würde ja auch deutsche Eltern nicht fragen, wo sie politisch stehen. Dann passierte diese Sache mit dem Klassenchat der Sechsten.
Ein Elternpaar hatte sich beschwert, Ahu würde darin immer wieder für den türkischen Präsidenten Werbung machen; die Deutschen hätten angeblich falsche Vorstellungen von den Geschehnissen in der Türkei, vor allem, was den Putschversuch anging. Abgesehen davon, dass der Rest der Klasse kaum was damit anfangen konnte – die meisten interessierten sich mit ihren elf Jahren nicht für die aktuelle Weltpolitik – waren wir Lehrer dennoch irritiert. Ihre Klassenlehrerin sprach mit Ahu, die Whatsapp-Gruppe sei kein Forum, um ihre Mitschüler politisch zu beeinflussen.
Von da an hatte Ahu immer wieder Stress mit Lehrern. Verweigerte Arbeitsaufträge, bekam Verweise und war der Meinung: »Das alles passiert nur, weil ich Türkin bin!« Einer Kollegin, die ihr klar machen wollte, dass auch sie das Arbeitsblatt auszufüllen habe, knallte sie hin, wir seien ein Haufen Nazis. Ihr Vorwurf wirkte hilflos – und verschaffte ihr natürlich maximales Gehör. Das gesamte Lehrerzimmer redete über nichts anderes. Wie sollte man als Schule damit umgehen? Man lud die Eltern zum Gespräch ein. Sie kamen nicht. Der Direktor, seine Stellvertreter und die Klassenlehrerin redeten nochmal mit Ahu, versicherten ihr, es gut mit ihr zu meinen, an sie keine anderen Anforderungen zu stellen wie an die anderen Schüler ihrer Klasse – sie blieb hart, unversöhnlich. Im Chat schrieb sie daraufhin angeblich nichts mehr, und auch im Unterricht tauchte sie ab.
Seit diesem Schuljahr habe ich Ahu wieder – jetzt in der 8. Klasse. Ich erlebe gerade ein ganz anderes Mädchen, eines, das sich bei mir im Unterricht immer mehr öffne, sie meldet sich ständig, will zu allem was sagen. Kluge Sachen. Gibt von der ersten Bank aus den Ton an, aber offen und tolerant. Als wir vergangene Woche zum Thema »Liebe und Homosexualität kamen« meinte sie: »Jeder hat das Recht darauf gleich behandelt zu werden. Liebe basiert auf Vertrauen; welches Geschlecht die Liebenden haben, ist doch völlig egal!«
Ich mag Ahu, sie ist schlau und stark. Und vor allem hat sie einen eigenen Kopf – auch wenn mir vieles an ihr ein Rätsel bleiben wird. Ich glaube, sie ist hin- und hergerissen zwischen den Welten. Der Türkei und Deutschland. Ihrem Elternhaus und der deutschen Schule. Sie schafft es noch nicht, beide Herzen in sich zu vereinen. Eines schlägt immer doller als das andere. Aber ich hoffe, irgendwann werden sie im Gleichklang sein.