Niemand hat Lyra angekündigt. Sie steht plötzlich vor mir, am Münchner Hauptbahnhof, Gleis 23. Sie freut sich. Ich mich nicht. Ein Hund? Ich bin gekommen, um meine Familie vom Zug abzuholen, die zum ersten Mal ohne mich Weihnachten gefeiert hat. Etwas abseits steht Jan, der Mann, von dem ich mich nach 15 Jahren getrennt habe, nach einem halben Leben. Wie das gehen soll, wissen wir beide noch nicht.
Jetzt steht da ein großer schwarzer Hund. Labrador oder Collie oder beides, so genau weiß das keiner. Meine Kinder schauen mich an. Hoffen, dass ich es Bombe finde. Wie heißt er denn? frage ich. Lyra, sagt meine jüngere Tochter Louise. Sie spricht es Englisch aus und sagt so etwas wie Leirah, und ich verstehe nichts.
In der S-Bahn auf dem Weg in ein Zuhause, das sich auflösen wird, schnuppert Lyra an jedem Fahrgast und springt hoch. Die Kinder, die die Leine abwechselnd halten, werden hin und her gerissen. Sie kommt aus England, sagt Jan, ich habe sie meiner Schwester abgekauft. Die Kinder brauchen jetzt jemanden an ihrer Seite. Mir fällt nichts ein. Mama, rufen die Kinder mir zu, Lyra spricht nur Englisch! Dann sagen sie: Sit! Und: Stop it!, aber das Tier folgt nicht.
In der Wohnung packt Jan seine Tasche um, er wird eine Weile verreisen. Weißt du, sagt er, bevor er die Tür hinter sich zu zieht, wenn du mit Lyra spazieren gehst, hast du endlich mal Zeit, über uns nachzudenken. Dann ist er weg. Ich gucke Lyra an und denke, dass es uns beiden nicht leicht gemacht wird. Sie blinzelt. Am Abend staubsauge ich ihre schwarzen Haare. So wie jeden Tag in den folgenden vier Wochen.
Der Hund muss weg, sagen meine Freunde. Was willst du in dieser Situation mit einem Hund?
Es ist nicht mein Hund, sage ich. Er gehört Jan und den Kindern.
Empört es dich nicht? fragen die Freunde.
Nein, antworte ich. Ich fühle mich schuldig.
Zwei Wochen vor Weihnachten habe ich meine Familie verlassen. Ich habe meinen kleinen Rollkoffer gepackt, ein billiges Modell, und bin zur U-Bahn gelaufen. Der Weg dauerte sieben Minuten. Währenddessen habe ich gedacht, wie laut die Rollen auf dem Asphalt rattern, und dass ich mir einen silbernen Hartschalenkoffer von Rimowa wünsche. Mit einem Hartschalenkoffer wäre alles weniger schlimm gewesen.
Der Hund macht es nicht besser, sagen die Freunde.
Der Hund bleibt, sage ich.
Lyra ist angeblich sechs Jahre alt. Ob sie Englisch besser versteht als Deutsch, habe ich bis heute nicht herausgefunden. An einem unserer ersten Abende laufe ich mit ihr durch den Park. Sie zerrt an der Leine, mir tut der Arm weh. Ach, denke ich, wirst schon wieder kommen und mache sie los. Lyra schießt davon. Ein schwarzer Hund in einer schwarzen Januarnacht. Ich telefoniere mit meinem Freund, den ich noch nicht so nenne. Dass ich nachts durch den Park laufe, um etwas richtig zu machen, nachdem ich, wie Jan sagt, meine Familie zerstört habe, damit hat der Freund eine Menge zu tun. Zwischendrin rufe ich: Lyra, come here! Aber sie kommt nur, wenn es sich ergibt. Dann kommt sie gar nicht mehr. Ich lege auf. Laufe die Runde noch einmal ab und pfeife lächerlich leise. Ich frage einen Jogger, ob er einen schwarzen Hund gesehen hat. Wie heißt er denn? fragt er. Leirah, sage ich. Wie bitte? Sie kommt aus England, erkläre ich und denke, für internationale Hunde ist das der falsche Stadtteil.
Ich habe mich daran gewöhnt, dass man sich als Hundebesitzer unterhalten muss, wenn man raus geht. Dass man, nur durch dünnes Plastik geschützt, in dampfende Haufen fasst und anschließend den Beutel bis zum Mülleimer mit sich herum trägt. Im Wald kann das schon mal länger dauern. Jetzt würde ich viel darum geben, so einen Haufen aufzusammeln. Ich friere.
Plötzlich ist Lyra wieder da, und ich mache das, was man nicht machen darf: Ich raste aus. Zerre an ihrem Halsband. Fluche. Schreie sie an. Ich bin seit sechs Uhr morgens wach, habe die Kinder auf den Weg gebracht, bin in die Redaktion gefahren, abends zurück, habe gekocht, Schulaufgaben kontrolliert, Instrumente üben lassen, Wäsche aufgehängt, deine schwarzen Haare staubgesaugt – der Hund versteht nur Englisch, sagt der Jogger, läuft an uns vorbei und verschwindet wieder im Dunkel. Lyra hält ihren Kopf abgewandt, schielt aber zu mir rüber, im Licht der Laterne sehe ich das ganz genau. Ich muss lachen. Dann weinen.
Nebeneinander gehen wir nach Hause, sie zieht nicht an der Leine. Vier Wochen später, als sie begriffen zu haben scheint, dass sie sich hinsetzen soll, bevor wir eine Straße überqueren, ist Jan zurück und ich packe ein zweites Mal den Koffer, so ist es verabredet. Ich frage meine 12-jährige Tochter Martha, ob sie mir ihren leiht, er ist größer als meiner. An meinem letzten Morgen in unserem alten Zuhause schmiere ich Schulbrote, küsse meine Töchter und wiederhole ständig, dass wir uns bald wiedersehen. Dass sie mich besuchen kommen bei der Freundin, bei der ich jetzt wohne. Zeig dein Gesicht, sagt Louise, weinst du? Nein, behaupte ich, jetzt geht.
Illustration: Grace Helmer