Ein Leben verpackt in Kartons. Eingelagert in Kellern von Freunden oder Freundesfreunden, auf Dachböden und unter Betten. Irgendwo zwischen zwei Kartons finde ich eine Schachtel mit Kinderpost, die ich nicht gesucht habe. Darin: Wunschzettel, Weihnachts- und Geburtstagskarten. Oben auf liegt ein Herz aus orangefarbenem Karton, aufklappbar, mit Glitzer verziert: »Liebe Mama, wir wünschen dir viel Spaß. Deine Louise, deine Martha«. Es ist die Muttertagskarte von 2015, ich bekomme jedes Jahr eine, die Kinder basteln sie im Hort. Ich lege das Herz weg und lese die älteren Karten, 2014, 2013, 2012. Sie haben andere Texte. »Für die liebste Mama der Welt«, zum Beispiel. Oder für »die beste«. Einmal bekam ich einen Frühstücksgutschein der versprach, ich müsste erst aufstehen, wenn der Tisch gedeckt sei. Und in diesem Jahr: »Viel Spaß«. Das liest sich wie: »Hau rein«. Oder: »Mach’s gut«.
Vielleicht war Louise in Eile, als sie diese Zeile schrieb. Oder sie hat sie bei einer Freundin abgeschrieben. Ich erschrecke trotzdem, die Karte ist höflich wie meine Kinder selbst. Ich bin ausgezogen aus ihrem Zuhause und nun wissen sie nicht weiter, ihre Verwirrung ist sprachlos. Sie weichen meinen Umarmungen aus. Lesen still in Büchern. Der, der geht, hat eben den schwarzen Peter, sagt meine Mutter am Telefon, als ich ihr erzähle, dass die Kinder, meine Kinder, mich meiden. Ich wehre mich. Sage, dass ich meine Kinder nicht verlassen habe. Meine Mutter schweigt, und ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, was gerade wirklich geschieht.
Ich muss es herausfinden. Wie war es in der Schule? frage ich die 12jährige Martha und zehnjährige Louise, wenn sie zu mir kommen. Was steht in dem Buch, das du liest? Soll ich euch bei den Pfadfindern anmelden? Wollen wir zusammen raus gehen? Die Kinder seufzen. Ich lese Schulmitteilungen, für die ich früher irgendwie keine Zeit hatte. Ich betrachte lange die Bilder, die sie malen, und suche in ihren Schultaschen nach alten Broten und Lebensschnipseln, die mir verraten, wie sie sich fühlen. Einmal finde ich eine Entschuldigung: »Liebe Frau K., meine Schwester Louise hat heute eine Tasche dabei, den ihr Schulranzen ist drekig. Ich hoffe sie können das berücksichtigen. Vielen Dank! Martha«.
Du hast lustige Kinder, sagt meine Freundin Hanna, mit der wir ein Jahr zusammenleben werden. Ich finde, sie hat Recht. Kommt, sage ich zu Martha und Louise, lasst uns essen gehen. Eine Ausnahme mitten in diesem Alltag, der noch keiner ist. Wir laufen durchs Viertel und ich bin stolz auf die großen Mädchen an meiner Seite. Mir fällt auf, dass sie schön und klug sind und das sage ich ihnen sofort. Ich bin froh über sie. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir Zeit miteinander verbringen. Unser Zusammensein ist kostbar und wir gehen vorsichtig miteinander um. Als müssten wir noch einmal herausfinden wie das geht, Mutter sein, Kind sein. Und ein Restaurant finden. Wir landen in einer Tapas-Bar, wo wir im schummrigen Licht auf Barhockern hängen. Keiner von uns versteht die Karte. Jeder bestellt etwas. Wir sind entrüstet über die kleinen Portionen, stellen fest, dass es schon ziemlich spät ist für einen ordinären Mittwoch und haben unbemerkt Spaß in einer Zeit, über die Louise einmal sagen wird: Mama, das war die schwerste in meinem ganzen Leben.
Illustration: Grace Helmer