»Neulich war ich mit Bekannten im Gebirge wandern. Einer von ihnen ist Mitte 70 und hatte einem Mitwanderer kurz vor der Tour gesagt, er wolle nicht reanimiert werden, falls er auf einer Wanderung eines Tages einen Herzstillstand erleide. Dieser andere habe ihm daraufhin geantwortet, er werde auf alle Fälle die Bergwacht rufen – einen Menschen sterben zu lassen sei für ihn undenkbar. Nun ist auf unserer Wanderung nichts passiert, trotzdem habe ich mich gefragt, wie ich mich in einem solchen Fall verhalten müsste.« Franka M., Garmisch
Für mich steht das Selbstbestimmungsrecht sehr weit, wenn nicht sogar ganz oben. Jeder Mensch muss, soweit es möglich ist, für sich bestimmen können, was mit ihm geschieht – und besonders, was nicht mit ihm geschehen soll.
Noch dazu ist der Wunsch Ihres Bekannten nicht abwegig: Untersuchungen zufolge überleben erschreckend wenige Menschen, bei denen eine Reanimation notwendig wird, und viele davon mit schweren und schwersten Folgeschäden. Das soll kein Argument gegen Reanimationsbemühungen sein, jeder Mensch, der das möchte, soll jede Chance bekommen, und sei sie auch noch so klein. Schließlich geht es um sein Leben. Um sein Leben geht es aber auch für den, der nicht wiederbelebt werden will, weshalb seiner Entscheidung hohes Gewicht zukommt. Ihn gegen seinen Willen zu reanimieren scheint daher schwer vertretbar.
Damit ist, könnte man meinen, alles klar. Wäre da nicht ein Problem: Neben dem, der reanimiert wird oder nicht, ist auch der massiv involviert, der reanimiert oder eben nicht. Er oder sie muss damit zurechtkommen, tatenlos zuzusehen, wie jemand stirbt. Ein von der Moral, hier der Achtung des Selbstbestimmungsrechts, gebotenes Verhalten kann für den Einzelnen fast oder tatsächlich unzumutbar sein, wenn es seinen innersten Überzeugungen widerspricht. Man kann das unter den Begriff »Gewissen« fassen, in der moralphilosophischen Diskussion spricht man seit einem Aufsatz des englischen Philosophen Bernard Williams von »Integrität«. Es geht darum, ob jemand in seiner Person intakt bleiben kann, der gezwungen wird, sich gegen seine innersten Überzeugungen zu verhalten. Vielleicht fände der Mitwanderer keine ruhige Minute mehr in seinem Leben, wenn er nichts unternommen hätte, seinen Bekannten zu retten. Jemanden sterben zu lassen erfordert viel Kraft.
Ich muss gestehen, ich sehe das als Grenzfall. Einerseits fällt es schwer, von jemandem zu fordern, mit der Hypothek weiterzuleben, jemanden nicht gerettet zu haben. Andererseits darf das aber nicht dazu führen, dass jemand gegen seinen Willen wiederbelebt wird und womöglich mit schwersten Schäden weiterlebt. Er würde zum bloßen Objekt des Reanimationswillens des anderen, und sei der noch so gut gemeint. Deshalb gibt für mich am Ende doch die Autonomie den Ausschlag.
----
Jede Menge Literatur empfiehlt Rainer Erlinger zu diesem Thema:
Arnd Pollmann, Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie, transcript Verlag, Bielefeld 2005
Bernard Williams, Kritik des Utilitarismus, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1979
David J. Callans, Out-of-Hospital Cardiac Arrest — The Solution Is Shocking. New England Journal of Medicine 2004; 351:632-634
Mickey S. Eisenberg, Terry J. Mengert, Cardiac Resuscitation, New England Journal of Medicine 2001; 344:1304-1313
Mary Ann Peberdy , William Kaye, Joseph P. Ornato, Gregory L. Larkin, Vinay Nadkarni, Mary Elizabeth Mancini, Robert A. Berg, Graham Nichol, Tanya Lane-Trultt, for the NRCPR Investigators Cardiopulmonary resuscitation of adults in the hospital: A report of 14 720 cardiac arrests from the National Registry of Cardiopulmonary Resuscitation Resuscitation 2003; 58:297-308
Christian Madl and Michael Holzer, Brain function after resuscitation from cardiac arrest Current Opinion in Critical Care 2004, 10:213–217
Thömke, Frank; Weilemann, Sacha L. Prognose kardiopulmonal reanimierter Patienten – ein Diskussionsbeitrag Dtsch Arztebl 2007; 104(42): A-2879 / B-2536 / C-2460
Aus dieser Arbeit sei stellvertretend lediglich der erste Absatz wiedergegeben: „Die Prognose kardiopulmonal reanimierter Patienten ist schlecht. In ländlichen Regionen überleben durchschnittlich weniger als 5 % (1), in Städten zum Teil bis zu ein Drittel der Patienten die Reanimation (2). Etwa 80 % dieser Patienten bleiben zunächst komatös und haben meist eine ausgesprochen ungünstige Prognose. Sie versterben oder überleben mit schweren irreversiblen Hirnschädigungen, die zu einer bleibenden Bewusstlosigkeit, einem persistierenden apallischen Syndrom oder einem dauerhaften schweren neurologischen Defektsyndrom mit ständiger Pflegebedürftigkeit führen (3, 4).“ (Die Zahlen beziehen sich auf Nachweise, die unter dem angegebenen Link zu finden sind)
J P Pell, J M Sirel, A K Marsden, I Ford, N L Walker and S M Cobbe, Presentation, management, and outcome of out of hospital cardiopulmonary arrest: comparison by underlying aetiology, Heart, 2003 August; 89(8): 839–842.
Illustration: Marc Herold