Die letzten großen Entdeckungsreisen der Menschheit führen entweder in extrem weit entfernte Dimensionen (Mars-Expedition) oder aber in extrem naheliegende: in die Nanowelt unseres eigenen Körpers. Letzteres hat medizinische Gründe, denn tatsächlich macht es ja oft wenig Sinn, wie wir uns derzeit Medikamente verabreichen: meist durch den Magen, oder Ärzte injizieren sie direkt ins Blut, wo sie den ganzen Körper überfluten. Viele Medikamente werden aber nur an der spezifischen Problemstelle gebraucht, etwa im Gehirn, wo der Tumor sitzt, oder im Herzen, wo der Blutfluss blockiert ist. Was wäre, wenn wir in unserem Körper Mikro-Roboter auf die Reise schicken könnten, winzig kleine Boten, kleiner als ein Reiskörnchen, die das Medikament genau an die Stelle bringen, wo es gebraucht wird oder den Krebs genau dort attackieren, wo er sitzt?
Daran arbeiten zahlreiche Startups und Forschungsinstitute auf der ganzen Welt, aber einige sind weiter als andere. Im kalifornischen Culver City kann man sich bereits anschauen, wie Mikro-Roboter im Körper arbeiten. Michael Shpigelmacher, Mitgründer des Startups Bionaut, beschreibt den gleichnamigen, von seinem Unternehmen entwickelten Mikroroboter so: »Eigentlich wie eine winzige Schraube, die wie von einem unsichtbaren Schraubenzieher bewegt durch die Venen an den Ort kommt, wo der Tumor sitzt«.
Via Zoom zeigt Shpigelmacher auf dem Bildschirm des Röntgengeräts, wie sich der halbtransparente, gelbliche Bionaut die Wirbelsäule entlang den Körper hochschraubt. Das aktuelle Modell hat einen Durchmesser von weniger als einem Millimeter. Shpigelmachers Forscher könnten die Winzlinge auch noch kleiner bauen, aber so kann man sie mit bloßem Auge noch auf dem Bildschirm erkennen. Vereinfacht ausgedrückt wird der Mini-Roboter bei dieser Demonstration in das Rückgrat injiziert und von außen, durch einen Magneten gesteuert, die Wirbelsäule bis zum Gehirnstamm hochgezogen. »Das Prinzip kann jeder selbst ausprobieren: Man kann eine große Schraube nehmen und sie mit Magneten durch ein Steak bewegen«, sagt Shpigelmacher, aber der Bionaut unterscheidet sich natürlich doch von einer simplen Schraube: »An der richtigen Stelle angekommen, geben wir ein magnetisches Signal – und er entlädt die Dosis Medizin.«
Shpigelmacher bereitet derzeit die ersten Versuche am Menschen vor, die Anträge sind gestellt
Genau das ist die bestechendste Eigenschaft der neuen Erfindung: Der Bionaut kann die Chemo zielgenau zum Tumor transportieren – anders als bisher in der Krebstherapie üblich. Da landet oft nämlich nur »ein Bruchteil der Medikamente dort, wo sie gebraucht werden«, erklärt Shpigelmacher.
Shpigelmacher konzentriert sich auf die Bekämpfung zweier Krankheiten: Parkinson und Hirnstamm-Gliome. Letzteres betrifft vor allem junge Patienten, oft Kinder oder junge Erwachsene unter 20 Jahren. »Jedes Jahr werden in Amerika 300 bis 400 junge Patienten mit diesem Tumor diagnostiziert«, sagt Shpigelmacher. Das seien nicht viele Patienten im Vergleich zu anderen Krankheiten, aber: »Die Krankheit verläuft fast immer tödlich, weil der Tumor so nah am Gehirn sitzt, dass es kaum Behandlungsmöglichkeiten gibt.« Aus diesem Grund hofft er, für den Bionaut frühzeitig eine Sonderzulassung zu bekommen. »Diese Patienten haben eigentlich keine andere Chance«, sagt Shpigelmacher. »Ich werde schon jetzt mit Anfragen überhäuft.«
Versuche mit Schafen waren in den letzten vier Jahren erfolgreich, Shpigelmacher bereitet derzeit die ersten Versuche am Menschen vor, die Anträge sind gestellt. Angepeilter Start: 2023. Gerade erst hat die US-Arzneimittelbehörde FDA der Firma die »Orphan Drug Designation« verliehen, mit der die Entwicklung innovativer Medikamente und Medizintechniken gefördert wird. Wenn die Technik einmal perfektioniert sei, seien den Anwendungsmöglichkeiten kaum Grenzen gesetzt, hofft Shpigelmacher. Er arbeitet bereits mit einer Organisation zusammen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Huntington-Krankheit zu behandeln, eine seltene, vererbbare und unheilbare Erkrankung des Gehirns. »Früher hielt man Krebs für eine unbesiegbare Herausforderung und nun leben viele damit. Alzheimer, Huntington, Parkinson, all diese Krankheiten, die heute als unbezwingbar gelten – da könnten Mikroroboter der Brückenkopf sein, um direkt zum Gehirn Zugang zu bekommen und dort entweder Medikamente zu platzieren, Zellproben zu entnehmen oder bestimmte Gehirnregionen zu stimulieren.«
Nicht wenige Forscher glauben, dass Nano-Roboter die Zukunft der Medizin sind. Schon 2016 bekamen drei Forscher den Chemie-Nobelpreis dafür, dass sie den Grundstein für diese Technik legten. Sie entwickelten Nano-»Aufzüge« aus Molekülen, die man mit bloßem Auge nicht mehr erkennen kann, die aber bei der Zellentrümpelung helfen können. Shpigelmacher will hingegen im Millimeterbereich bleiben, statt in wesentlich kleineren Nano-Dimensionen zu forschen – nicht zuletzt weil es einfacher ist, Reiskorn-große Maschinchen zu kontrollieren als winzige Moleküle. »Die könnten im Körper verloren gehen. Und auch nicht so viel Medizin transportieren.«
Der Hintergrund der beiden Bionaut-Gründer ist dabei eher ungewöhnlich. Aviad Maizels und Michael Shpigelmacher wurden ursprünglich reich, weil sie beim Startup PrimeSense die Xbox Kinect entwickelten und an Apple verkauften. Shpigelmacher wuchs in der ehemaligen Sowjetunion auf, bevor er als Kind mit seiner Familie nach Israel floh und dort zehn Jahre Militärdienst leistete. Beim Militär entdeckte er sein Interesse an Roboterforschung, danach studierte er robotische Systeme am israelischen Weizman Institute of Science. Dann zog er nach Amerika, wurde Berater bei McKinsey und MorganStanley. Vielleicht wegen seiner Konzern-Karriere setzt Shpigelmacher auch bei der Entwicklung des Bionauts lieber auf private Investoren, statt den akademischen Weg zu beschreiten – »weil das Resultat so schneller beim Patienten ankommt«.
Die Technik hinter den Entwicklungen von Bionaut stammt aus Deutschland: Peer Fischer, Professor an der Universität Stuttgart und Chef des unabhängigen Micro Nano und Molecular Systems Lab am Max Planck Institut für Intelligente Systeme, hat sie entwickelt. Fischer gilt als Pionier für die Forschung im Nano-Bereich, die er vor mehr als einem Jahrzehnt in Harvard begann. Er und sein Team beraten Bionaut. »Bionaut hat Ressourcen, die wir hier nicht haben«, räumt Tian Qiu ein, der Max-Planck-Wissenschaftler, der die Zusammenarbeit mit Bionaut leitet. «Die Hoffnung ist, dass wir ein Vehikel entwickeln, das verschiedene Medikamente tief in den Körper transportieren kann.« Er sieht wie Shpigelmacher die Vorteile des Bionauts darin, dass er eine größere Medikamentenladung transportieren kann, sieht aber auch potenzielle Anwendungen für die noch kleineren Nano-Roboter und forscht dazu vor allem an der Anwendung im Auge, einem extrem sensiblen Gewebe. »Nano-Roboter können sich sehr klug durch feines Gewebe schlängeln«, sagt er.
In dem Film Die phantastische Reise von 1966 spielt Raquel Welch eine medizinische Assistentin, die sich mit ihrem Team samt eines U-Bootes so stark verkleinern lässt, dass sie sich in den Körper eines tschechischen Dissidenten injizieren lassen kann. Über die Blutbahnen gelangen sie in sein Gehirn, um dort ein tödliches Gerinnsel zu entfernen. Nach etlichen Verwicklungen wird das Mini-U-Boot samt Besatzung von Antikörpern angegriffen und kann sich über den Sehnerv ins Auge retten, wo es auf einer Träne in die Freiheit schwimmt. In Wirklichkeit ist der Ausgang viel profaner: Der Bionaut bewegt sich einfach auf demselben Weg zurück an die Eintrittspforte und verlässt den Körper wieder. Aber ansonsten war die phantastische Reise durchaus prophetisch – oder wie Shpigelmacher es ausdrückt: »Science Fiction wird Science Wirklichkeit.«